Fronalpstock
Text und Bilder: Hans Peter Näf
10. Oktober 2024
Ein Gipfel weniger, ein Erlebnis mehr
Migg Näf und ich haben trotz unterschiedlicher Berufe, Ehefrauen und Wohnorte einiges gemeinsam: den Familiennamen, Sommer- und Winter-Alpinismus sowie altersbedingt das körperliche Unvermögen, mehr als ein paar hundert Höhenmeter von Bergen abzusteigen. Deshalb freut es mich, dass Migg in den letzten Jahren immer wieder Touren ausschreibt, bei denen einem längere Abstiege dank Seil- und Sesselbahnen erspart bleiben. Eine besonders beglückende Tour hat er am 10. Oktober zwischen zwei Regentagen geführt – wobei „geführt“ fast übertrieben klingt – wir waren aufgrund mehrerer Absagen ja nur zu zweit.
Start war am Parkplatz der in die Jahre gekommenen Seilbahn oberhalb von Morschach nach Stoss über dem Muothatal. Eine Zeitlang ging es auf einem breiten Weg, auf dem man problemlos in vier Stunden zum Gipfel gelangt. Dann zweigt ein Weg nach rechts ab; dass dieser blau-weiß markiert ist, würde sogar ein Blinder merken, denn der Pfad ist meist schmal, steil und steinig. Zusätzlich, wegen des gestrigen Regens, war er oft rutschig. Aber der Weg war interessant angelegt. Steil ging es in einer grasigen Schneise hinauf zu einer abgelegenen Alp, wo wir beim Znüni acht Gemsen zuschauten, die sich derselben Aufgabe widmeten. Als wir die Alp westwärts überquerten, suchten sie in grossen Sprüngen das Weite, eher sportlich als verscheucht.
An der Westkante des Bergs ging es abrupt und anhaltend aufwärts, mal brauchten wir die Hände, mal die Stöcke. Doch immer wieder wurden wir mit einem weiter reichenden Blick belohnt: auf die Arme des Vierwaldstättersees sowie den überzuckerten Pilatus, Bürgenstock und die Rigi, weiter oben auch auf den Zuger- und den Ägerisee. Weit unter uns sahen wir die Damperchen, die dem Rütli, Brunnen oder dem fernen Luzern zustrebten. Von so hoch oben schien die Welt noch in Ordnung. Ein gewaltiger Knall weckte zwar andere Gefühle und aktuelle Bilder, aber nur kurz: Man sanierte ja die Axenstrasse.
Dann führte der Weg auf einem breiten, abschüssigen Hang ostwärts und über das obere Felsband hinauf zu einem Pass: unter uns das Skizentrum Stoss, hoch über dem engen Muothatal; im Süden und Südosten die Bündner und Glarner Berge, gekrönt vom Tödi, rechts gute 100 Höhenmeter über uns das Berghaus auf dem Fronalpstock, unser Ziel. Aber um uns tobte ein ungestümer Föhn, der Migg veranlasste, abzuklären, ob die Seilbahn vom Stoss noch fahre. „Kaum noch lange“, war die Antwort. Der Föhn sollte zunehmen, versprach die Prognose. Damit wir nicht etwa die ganzen 1.100 Meter Abstieg bewältigen mussten, opferten wir den Gipfel und stiegen in Richtung Stoss-Bergstation ab. Unweit davon gönnten wir uns herrlichen Hirschpfeffer, während launische Föhnböen Speisekarten, Tischsets, leere Flaschen, Salz und Pfeffer von den Tischen fegten. Migg bedauerte, den Gipfel „geopfert“ zu haben. Mir war der Platz in der Seilbahnkabine talwärts wichtiger. Fröhlich leuchtete das Herbstlaub herauf. Was will man mehr?