Schächental

Text: Hanspeter Nef
Bilder: Andreas Brunner, Hans Graf & Ueli Mettler

5. – 8. März 2025

Saftige Touren im Tellenland

Die Klimaerwärmung bewirkt, dass in den Wintermonaten nicht mehr verlässlich genügend Schnee in Höhen fällt, wo man früher damit rechnen konnte. Damit wird’s viel schwieriger, Touren für mehrere Tage zu planen. Teilnehmer wollen früh wissen, wohin es geht und wann, bevor sie sich anmelden. Unterkünfte muss man frühzeitig reservieren, wenn man sie auf sicher haben will – von den Problemen der Bergführer nicht zu reden. Vergangenes Jahr hatte unser Führer Andreas Brunner (genannt «Meieli») frühzeitig im Hotel Alpina (auf der Urnerseite des Klausenpasses) in Unterschächen reserviert und musste dann wegen Schneemangel stornieren. So grosszügiges Entgegenkommen der Wirtsleute wollte er nicht ein zweites Mal einfordern. Also waren Erfahrung, Kreativität und Improvisationstalent gefragt, um Touren zu finden, die für die Teilnehmer machbar und interessant sein würden. Das hat er geliefert, und als Teilnehmer ziehe ich den Hut vor seiner Leistung.

  1. Tag: Wäspen (2345 m) – Rundtour

Nach dem Einchecken stellen wir erfreut fest, dass die Eigentümer des Hotels kräftig in Zimmer und Nasszellen investiert haben, hingegen mit Sorge, dass auf der sonnigen Talseite die Schneegrenze viele hundert Meter über dem Talboden (1000 m) liegt.

Meieli kommt gleich zur Sache: Es geht talaufwärts, zum Teil auf der präparierten Langlauf-Piste, zum Teil auf Schnee- und Eisresten, zum Teil mit geschulterten Ski, bis wir bei einem der zahlreichen Seilbähnli anlangen, die in der Innerschweiz die Alpweiden und hochgelegenen Weiler erschliessen. Das eine Viererkabinchen ist für Personen eingerichtet, das andere wahlweise für Waren- oder Personentransport. Im Nu 600 Hm schattseitig hinauf, und schon stehen wir auf der Alp Wanne verdutzt in einer anderen Welt: Stille, Sonne, Schnee – Pulverschnee! Wir traversieren etwa 1 ½ km in einer Spur talaufwärts zur Niederalp. Dann geht’s 2 Stunden zu unserem ersten Gipfel hinauf. Erst wenige Skispuren. Ob Wäspen eine Sie, ein Er oder einen Zwitter meint, wissen wir nicht, spielt aber in der heutigen Zeit ja nur noch bedingt eine Rolle. Strahlend schön auf dem Gipfel. Über die Oberalp nordostwärts in schönstem Pulverschnee hinab. Gelegenheit für eine Zusatzschlaufe: nochmals hinauf zum Pass und ein zweites Mal im leichten Schnee hinabkurven – ein Fressen! Fordernd wird’s erst im enger werdenden Seitental, mit den vielen Buckeln im Wald und erst recht, als später Schnee rar und rarer wird. Mehrmals Ski buckeln und wieder ein Stück abfahren. Schliesslich auf und entlang einem Alpsträsschen 5 km zurück zum Hotel. Was die Küche auf den Tisch von uns einzigen Gästen bringt, rundet den Tag aufs Beste ab.  –  750 + 300 Hm

2. Tag: Sprossengrätli und Zinggen (2336 m) – Rundtour

Das Filetstück, wie unser Führer die anspruchsvolle Tour hinterher bezeichnet. Ich hätte mir’s vorher kaum zugetraut, wenn ich eine klare Vorstellung vom geradezu hochalpinen Charakter der Tour gehabt hätte. Hinterher bin ich ihm dankbar, dass er mir‘s zugetraut hat. In früheren Jahren gehörten für mich solche Touren in jeden guten Winter – aber jetzt, kurz vor dem 85.? – Uns erwarten grossartige Berg-Szenerie und Pulverschnee, aber auch zeitweise stürmischer Föhn, steile «Pörter» und Passagen mit schwierigem Schnee.

Wir ziehen auf teils vereistem Strässchen ins Brunnital hinein, sichten ein Rudel äsende Gemsen, die sich von uns kaum stören lassen, biegen bei der Alp Brunni nach W ab und steigen das Griesstal hoch, bis ein langer Steilhang südwärts zum Sewligrat hinaufführt. Zwischen der mächtig abweisenden Windgällen-Nordwand und den beiden vorgelagerten Nebengipfeln Schwarz Stöckli und Wiss Stöckli ist ein unscheinbarer Übergang mit einem wohl 10 m aufragenden Felsen, dem Zinggen. Es war schon steil und ausgesetzt bisher, doch so geht’s weiter. Meieli strebt ostwärts und die Föhnböen schieben uns hinterher. Halt! Skeptisch schauen die meisten von uns in einen wohl 200 Hm steil abfallenden, engen «Chengel» hinab, dessen Ausgang unseren Augen vorläufig verborgen bleibt. Doch Meieli hat vorgesorgt: Er verknüpft zwei dünne 40-m-Seile und verankert ein Ende an zwei tief eingegrabenen Stöcken.  Einer davon, aus dem modernen Material Karbon (?), zerbricht schon an seiner Aufgabe, bevor er sie angetreten hat. Meieli rutscht am Sicherungsseil etwa 70 m ab, bis er einen passablen, flacheren nächsten Sicherungsplatz für die zweite Etappe findet. Dann rutscht der erste nach, während unser Führer den Platz möglichst ausebnet, damit alle dort zwar eng, aber sicher stehen können. Und weiter geht die steile Reise mehrmals auf die gleiche Weise. Gut zu erleben, wie sich alles einspielt, wenn alle ihr Möglichstes beitragen. Beeindruckt haben mich die guten Fahrer, die als Letzte ohne Seilsicherung abfahren mussten. – Unerwartet öffnet sich die Rinne nach N; das Anspruchsvollste ist gelungen. Nun geht’s genussvoll hinab ins Brunnital und zügig hinaus zum wohlverdienten Apero etc. – 1350 Hm

3. Tag: Höch Pfaffen (2458 m)

Wer Andreas kennt, weiss, dass er seine Führerzeit nutzt, füllt und nicht schon am frühen Nachmittag hinter einem Bier die Zeit bis zum Apero verbummeln mag. Immerhin hat er für heute weniger Höhenmeter in Aussicht gestellt, auch wenn unsere dritte Tour schliesslich im schwyzerischen Muothatal enden soll. Weil sonnseitig bis hoch hinauf kein Schnee liegt, fahren wir mit Sonderbewilligung (im Hotel erhältlich) auf etwa 1850 m hinauf. Wo die Alpstrasse nicht mehr geräumt ist, wird parkiert, neben einer Scheiterbeige, die wohl nicht gerade heute abtransportiert wird – so still und menschenleer ist’s hier oben. Gleich steil ansteigend zur höchsten Siedlung Mettener Butzli und neben den Lawinenverbauungen zu einem kilometerlangen Felsband hinauf. Dieses wird in einer Nische, wo auch der Sommerweg durchführt, dank Pickel und Steigeisen ohne grosse Probleme überstiegen. Das Gelände ist bald weniger abschüssig, lehnt sich zurück und wird zum weiten Kessel Bergli. Wir steigen zu dessen Rand auf (Pt. 2383). Von dort erst steil auf der Krete, dann sonnseitig unterhalb zum überraschend geräumigen Gipfel hoch. Viel Sonne und erträgliches Windchen. Von hier aus kann man kaum glauben, wie wir gestern vom Zinggen heruntergefunden haben.

Die Abfahrt im steilen Gipfelhang lässt sich durch Abrutschen im obersten Teil mildern. Die Morgensonne hat den Hartschnee aufgeweicht. Vom Pt. 2383 unternehmen zwei den erfolgreichen Versuch, durch sorgfältiges weiträumiges Hangqueren einen Wiederaufstieg zu vermeiden. Alle andern nehmen in Kauf, die Felle nochmals zu montieren, und durchqueren die weitläufige Buckellandschaft bis zum Rand. Dort überfällt uns der Ernst des Lebens: Jäh geht’s tief hinab in coupiertes Gelände, von Sträuchern, Bäumen, Gräben und Felsabsätzen durchsetzt.

Andreas führt uns mit viel Gespür und findet immer wieder Passagen, wo man auch Bögen in pulvrigen Schnee ziehen kann. Allerdings überwiegt heute Schnee, dem der gestrige Föhn zugesetzt hat. – Endlich im Talboden, wo wir rasten und dann talaus gemächlich ein paar Alpen und einen kleinen Stausee passieren. Das Alpsträsschen ist meist schnee- oder eisbedeckt. Nur wenige hundert Meter weit heisst es Ski tragen. Da wartet auch schon der bestellte Kleinbus. Der vergnügte und witzige Chauffeur befördert uns nicht nur mit schlafwandlerischer Sicherheit und Eleganz um alle Kurven auf den Bahnhof Schwyz, sondern unterhält uns witzig und gestikulierend aufs Beste. – 700 Hm auf / 1500 Hm ab

4. Tag: Wäspen zum Zweiten

Der Föhn hat vielerorts die Schneequalität beeinträchtigt. Andreas schätzt die Schneesituation richtig ein und führt uns nochmals auf den Wäspen, diesmal auf direktem Weg hinauf, der R 143b folgend. Eine grosse Gruppe ist uns beim Seilbähnli zuvorgekommen und hat denselben Aufstieg im Sinn. Wir kommen recht gut aneinander vorbei, weil Andreas wo immer möglich eine eigene Spur legt. In Gipfelnähe wird’s ausgesetzter, schmaler und steiler. Andreas besteht darauf, meine Ski hinaufzutragen, damit mir zahllose Spitzkehren erspart bleiben. «That dates you» sagen die Engländer in solchen Situationen: Daran erkennt man dein Alter. – Eine letzte Steilabfahrt ins Brunnital erwartet uns. An heiklen Stellen postieren sich unsere besseren Fahrer, damit die andern sicherer die Kurve kriegen. Der teils aufgeweichte, teils noch pulvrige Schnee beschert uns letzte Abfahrtsfreuden, bevor es durchs Brunnital hinausgeht. – 750 Hm auf / 1350 Hm ab

Die opferbereiten Chauffeure erwartet eine lange Heimfahrt. Aber vorher gönnen wir uns im «Alpina» den Abschiedstrunk. Wir waren in unserem sympathischen Hotel bestens aufgehoben und wurden nicht einfach nur verpflegt. Und reichhaltiges Frühstück gab’s bereits ab 07.00. Wir durften uns auf jede Mahlzeit freuen.

Besonders beeindruckt hat mich an diesen für mich fordernden Touren neben der Leistung von Andreas, wie jeder nach seinen Möglichkeiten zum Gelingen beigetragen hat. – Gemeinsam ist man stärker.